Lateinischer Text: | Deutsche Übersetzung: |
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Die letzten Jahre – Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 26) |
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Modo dicebam tibi in conspectu esse me senectutis: iam vereor ne senectutem post me reliquerim. | Vor Kurzem sagte ich dir, dass ich mein Alter vor Augen habe: schon fürchte ich, dass ich mein Alter hinter mir zurückgelassen habe. |
Aliud iam his annis, certe huic corpori, vocabulum convenit, quoniam quidem senectus lassae aetatis, non fractae nomen est: inter decrepitos me numera et extrema tangentis. | Die andere Bezeichnug passt zu diesen Jahren, sicherlich aber zu diesem Körper, da nun jedenfalls das Alter Name für das ermattete Lebensalter, nicht jedoch für das zerbrochene ist: zähle mich zu denen, die schon abgeklappert und die schon das letzte berühren. |
Gratias tamen mihi apud te ago: non sentio in animo aetatis iniuriam, cum sentiam in corpore. | Ich bedanke mich dennoch bei dir: ich bemerke in meinem Geist nicht die Ungerechtigkeit des Alters, obwohl ich sie im Körper spüre. |
Tantum vitia et vitiorum ministeria senuerunt: viget animus et gaudet non multum sibi esse cum corpore; magnam partem oneris sui posuit. | Nur Gebrechen und Diener der Gebrechen werden alt: Der Geist wird kräftig und freut sich, wenig mit dem Körper zu tun zu haben; er legt einen großen Teil der Lasten sich ab. |
Exsultat et mihi facit controversiam de senectute: hunc ait esse florem suum. | Er frohlockt und zieht mich in ein Streitgespräch über das Alter: er bejaht, daß diese Blume die seinige ist. |
Credamus illi: bono suo utatur. | Wir wollen jenem glauben: er soll sich der guten Einstellung bedienen. |
Ire in cogitationem iubet et dispicere quid ex hac tranquillitate ac modestia morum sapientiae debeam, quid aetati, et diligenter excutere quae non possim facere, quae nolim, proinde habiturus atque si nolim quidquid non posse me gaudeo: quae enim querela est, quod incommodum, si quidquid debebat desinere defecit? | Er befiehlt, in Nachdenken zu gehen und deutlich herauszufinden, was aus dieser Stille und Bescheidenheit der Sitten der Weisheit ich schulde, was dem Alter, und genau zu untersuchen, was ich nicht machen kann, was ich nicht machen will, danach was ich genauso behandeln werde, wie wenn ich nicht will, obwohl ich mich freue, dies nicht zu können: was nämlich ist diese Beschwerde, welchen Nachteil es ist, wenn, obwohl er es zulassen muß, verzweifelt? |
‚Incommodum summum est‘ inquis ‚minui et deperire et, ut proprie dicam, liquescere. | „Es ist das höchste“ sagst du, „daß der Nachteil vermindert wird und zugrundegeht um, um es treffend zu sagen, sich auflöst. |
Non enim subito impulsi ac prostrati sumus: carpimur, singuli dies aliquid subtrahunt viribus.‘ | Plötzlich sind wir nicht einmal umgeworfen und zu Boden gestreckt; wir werden Stück für Stück verzehrt, jeder einzelne Tag nimmt irgendetwas von unseren Kräften weg.“ |
Ecquis exitus est melior quam in finem suum natura solvente dilabi? | Ob nicht der Ausgang besser ist als an seinem Ende auseinanderzufallen, weil die Natur es beendet? |
Non quia aliquid mali ictus |
Nicht weil irgendetwas Schlechtes der Todesstoß ist und aus dem Leben ein plötzliches Hinscheiden, sondern weil es auf diesem Weg leicht ist, hinwegzuscheiden. |
Ego certe, velut appropinquet experimentum et ille laturus sententiam de omnibus annis meis dies venerit, ita me observo et alloquor: ’nihil est‘ inquam ‚adhuc quod aut rebus aut verbis exhibuimus; levia sunt ista et fallacia pignora animi multisque involuta lenociniis: quid profecerim morti crediturus sum. |
Ich sicherlich, gleichwie die Bewährungsprobe sich nähert und jener Tag seine Stimme über alle meine Jahre abgeben wird, beobachte mich so und spreche: „Es ist nichts bis jetzt, was wir entweder durch Taten oder durch Worte verwirklicht haben; mild und trügerisch sind diese Unterpfänder des Geistes da und mit vielen Lockmitteln eingehüllt; was für Fortschtitte ich gemacht habe, will dem Tod überlassen. |
Non timide itaque componor ad illum diem quo remotis strophis ac fucis de me iudicaturus sum, utrum loquar fortia an sentiam, numquid simulatio fuerit et mimus quidquid contra fortunam iactavi verborum contumacium. | Ich werde daher nicht ängstlich auf jenen Tag vorbereitet sein, an dem die übriggebliebenen Kunstgriffe und Schönfärbereien über mich ich anzeigen will, ob ich nun Heldentaten erzähle oder meine, ob es Vorgabe und Mimenspiel gewesen ist, obwohl ich gegen das Schicksal der unbeugsamen Worte gekämpft habe. |
Remove existimationem hominum: dubia semper est et in partem utramque dividitur. | Entferne die Einschätzung der Menschen: sie ist immer zweifelhaft und in je zwei Teile geteilt. |
Remove studia tota vita tractata: mors de te pronuntiatura est. | Entferne die Studien, weil sie im ganzen Leben betrieben wurden: der Tod wird sicher über dich ein Urteil fällen. |
Ita dico: disputationes et litterata colloquia et ex praeceptis sapientium verba collecta et eruditus sermo non ostendunt verum robur animi; est enim oratio etiam timidissimis audax. | Ich sage es dir so: die Disputationen und gelehrten Gespräche, die gesammelten Worte aus den Vorsätzen der Weisen und die gebildeten Unterhaltungen, sie zeigen nicht die wahre Kraft des Geistes; das ist nämlich die kühne Rede auch für die furchtsamsten. |
Quid egeris tunc apparebit cum animam ages. | Was du getan hast, wird dann erscheinen, während du im Sterben liegst. |
Accipio condicionem, non reformido iudicium.‘ | Ich nehem die Bedingungen an, ich bebe nicht vor dem Urteil zurück.“ |
Haec mecum loquor, sed tecum quoque me locutum puta. | Dieses sage ich mit mir, wenn ich auch glaube, mit dir gesprochen zu haben. |
Iuvenior es: quid refert? Non dinumerantur anni. | Du bist jünser: was macht es? abgezählt wird nicht nach Jahren. |
Incertum est quo loco te mors exspectet; itaque tu illam omni loco exspecta. | Es ist unsicher, an welchem Ort dich der Tod erwarten wird; erwarte jenen daher an jedem Ort. |
Desinere iam volebam et manus spectabat ad clausulam, sed conficienda sunt aera et huic epistulae viaticum dandum est. | Ich will schon aufhören und die Hände zum Schluss betrachten, aber es sind Schulden zu Bezahlen und dieser Brief muß als Reisegeld gegeben werden. |
Puta me non dicere unde sumpturus sim mutuum: scis cuius arca utar. | Glaube mir, daß ich nicht sage, woher ich das Darlehnen nehmen will: du weißst, wessen Schatulle ich benutze. |
Exspecta me pusillum, et de domo fiet numeratio; interim commodabit Epicurus, qui ait ‚meditare mortem‘, vel si commodius sic transire ad nos hic potest sensus: ‚egregia res est mortem condiscere‘. | Erwarte mich ein bisschen, und die Auszahlung über das Haus wird geschehen; inzwischen wird Epikur aushelfen, der bejaht: „bereite dich auf den Tod vor“, oder wenn dieses zu und so mehr Sinn herübertragen kann: „Es ist eine Tugend, den Tod zu erlernen.“ |
Supervacuum forsitan putas id discere quod semel utendum est. | Du glaubst vielleicht, daß dieses zu lernen überflüssig sei, weil man es nur einmal gebrauchen kann. |
Hoc est ipsum quare meditari debeamus: semper discendum est quod an sciamus experiri non possumus. | Genau diese ist, worauf wir und vorbereiten sollten: man muss immer das lernen, was wir nicht ausprobieren können, ob wir es wissen. |
‚Meditare mortem‘: qui hoc dicit meditari libertatem iubet. | „Bereite dich auf den Tod vor“: wer diese sagt, befiehlt, die Freiheit einzuüben. |
Qui mori didicit servire dedidicit; supra omnem potentiam est, certe extra omnem. | Wer gelernt hat, zu sterben, der hat verlernt zu dienen; über dem ganzen ist die Macht, sicherlich jenseits von dem Ganzen. |
Quid ad illum carcer et custodia et claustra? liberum ostium habet. | Was nämlich kommt zu jenem in Kerker, Haft und Gewahrsam? Er wird freien Ausgang haben. |
Una est catena quae nos alligatos tenet, amor vitae, qui ut non est abiciendus, ita minuendus est, ut si quando res exiget, nihil nos detineat nec impediat quominus parati simus quod quandoque faciendum est statim facere. Vale. | Es gibt nur eine Kette, die uns wie angebundene hält, die Liebe zum Leben, die man zwar nicht wegwerfen, aber dennoch vermindern muss, damit, wenn eines Tages die Sache es verlangt, nichts uns abhält oder hindert, dass wir bereit sind, sofort das zu tun, was man über kurz oder lang tun muss. Leb wohl. |