Lateinischer Text: | Deutsche Übersetzung: |
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Liber secundus, Epistula 3 – C. Plinius Nepoti suo S. | Buch 2, Brief 3 – Mein lieber Nepos |
Magna Isaeum fama praecesserat, maior inventus est. | Groß war schon der Ruhm, den Isaeus vor seiner Ankunft hatte, doch bei seinem persönlichen Auftreten, löste er noch größeren Jubel aus. |
Summa est facultas copia ubertas; Dicit semper ex tempore, sed tamquam diu scripserit. | Seine Rhetorik, seine Wortfülle, sein Gedankenreichtum sind nicht gewöhnlicher Natur; Er spricht immer ohne sich schriftlich vorzubereiten, aber genau so als hätte er selbiges getan. |
Sermo Graecus, immo Atticus; Praefationes tersae graciles dulces, graves interdum et erectae. | Er benutzt das Griechische, oder vielmehr das Attische; Eine einführenden Worte sind gepflegt, graziös, gefällig, zuweilen gewichtig und erhaben. |
Poscit controversias plures; Electionem auditoribus permittit, saepe etiam partes; surgit amicitur incipit; Statim omnia ac paene pariter ad manum, sensus reconditi occursant, verba – sed qualia! – quaesita et exculta. | Er lässt sich mehrere fingierte Rechtsfälle vorlegen; Die Zuhörer dürfen dann wählen, ob er als Verteidiger oder als Vertreter der Anklage sprechen soll; Er steht auf, bringt sein Gewand in die richtige Ordnung und beginnt; Auf der Stelle ist ihm alles, und beinahe alles gleichzeitig, gegenwärtig, tiefgründige Gedanken fließen nur so zu ihm hin, Ausdrücke – aber welche! – die wohlüberlegtesten und anmutendsten. |
Multa lectio in subitis, multa scriptio elucet. | Seine (überaus) große Belesenheit und seine große Erfahrung als Schriftsteller leuchten in seinen Improvisationen auf. |
Prohoemiatur apte, narrat aperte, pugnat acriter, colligit fortiter, ornat excelse. | Die Einführung ist passend, die Auslegung klar, das Streitgespräch scharf, die Zusammenfassung überzeugend, das Redekleid edel. |
Postremo docet delectat afficit; Quid maxime, dubites. | Kurz gesagt, er belehrt, gefällt, bewegt; Man hat keine Ahnung worin er am besten ist: |
Crebra ‚enthymêmata‘ crebri syllogismi, circumscripti et effecti, quod stilo quoque assequi magnum est. | Viele Enthymémata (Analogieschlüsse), zahlreiche Syllogismen, knapp und fehlerfrei, etwas, das selbst bei schriftlicher Ausarbeitung ein nur schwer erreichbares Ziel darstellt. |
Incredibilis memoria: repetit altius quae dixit ex tempore, ne verbo quidem labitur. | Ein unfassbares Gedächtnis: er gibt das wieder, das er vorher aus dem Stegreif von sich gab und irrt auch nicht mit einem einzigen Wort. |
Ad tantam ‚hexin‘ studio et exercitatione pervenit; Nam diebus et noctibus nihil aliud agit nihil audit nihil loquitur. | Eine solche Héxis (Fähigkeit) errang er durch Betriebsamkeit und Training; Denn bei Tag und bei Nacht macht, hört und beredet er nichts anderes. |
Annum sexagensimum excessit et adhuc scholasticus tantum est: Quo genere hominum nihil aut sincerius aut simplicius aut melius. | Er hat das sechzigste Lebensjahr vollendet und ist immer noch nur Gelehrter: Es gibt keine aufrichtigeren, schlichteren oder fähigeren Menschen als jene. |
Nos enim, qui in foro verisque litibus terimur, multum malitiae quamvis nolimus addiscimus: schola et auditorium et ficta causa res inermis innoxia est, nec minus felix, senibus praesertim. | Wie nämlich, die wir uns auf dem Forum mit wirklichen Rechtsfällen herumplagen, lernen, ohne es (aktiv) zu wollen, viel Böses hinzu: Schule, Hörsaal und fiktive Rechtsfälle sind leichte, unschuldige, aber auch glücklich machende Dinge, besonders für Menschen hohen Alters. |
Nam quid in senectute felicius, quam quod dulcissimum est in iuventa? | Denn was kann im Alter schöner sein als das, was uns in der Jugend die meiste Freude machte? |
Quare ego Isaeum non disertissimum tantum, verum etiam beatissimum iudico. | Darum ist Isaeus meiner Meinung nach nicht nur der rheorisch beste, sondern auch der glücklichste Mensch. |
Quem tu nisi cognoscere concupiscis, saxeus ferreusque es. | Wenn es Dich nicht reizt ihn kennenzulernen, so musst Du (zweifellos) ein Herz aus Stein und Eisen haben. |
Proinde si non ob alia nosque ipsos, at certe ut hunc audias veni. | Deshalb komm, wenn nicht aufgrund anderer Dinge und unsretwegen, so doch sicher, um ihm zuzuhören. |
Numquamne legisti, Gaditanum quendam Titi Livi nomine gloriaque commotum ad visendum eum ab ultimo terrarum orbe venisse, statimque ut viderat abisse? | Hast Du nie davon gelesen, daß ein Mann aus Cadiz, von Namen und Ehre des Titus Livius vom Ende der Welt her angereist kam, um ihn zu sehen, und der sofort nachdem er ihn gesehen hatte, wieder nach Hause gegangen ist? |
‚Aphilokalon‘ illitteratum iners ac paene etiam turpe est, non putare tanti cognitionem qua nulla est iucundior, nulla pulchrior, nulla denique humanior. | Aphilókalos (jeder Schönheit unzugänglich), ungebildet, faul, und fast schon hoffnungslos muss derjenige sein, dem eine Solche Bekanntschaft nicht soviel wert ist, gibt es doch nichts Besseres und Schöneres, quasi eines echten Menschen Würdigeres. |
Dices: ‚Habeo hic quos legam non minus disertos.‘ | Du wirst entgegnen: „Ich habe hier nicht minder bekannte Autoren, von denen ich zu lesen vermag“. |
Etiam; sed legendi semper occasio est, audiendi non semper. | Sicher; aber zu lesen bist Du allzeit in der Lage, zu hören nicht. |
Praeterea multo magis, ut vulgo dicitur, viva vox afficit. | Außerdem ist es viel imposanter einen Menschen, wie man es so nennt viva voce zu hören. |
Nam licet acriora sint quae legas, altius tamen in animo sedent, quae pronuntiatio vultus habitus gestus etiam dicentis affigit; | Denn auch wenn das Gelesene tiefsinniger sein mag, das was der echte Vortrag, das Gesicht, die Haltung, auch das Verhalten des Redners uns einprägt, dringt tiefer in (unser/das) Herz ein; |
Nisi vero falsum putamus illud Aeschinis, qui cum legisset Rhodiis orationem Demosthenis admirantibus cunctis, adiecisse fertur: | Es sein denn wir würde das Wort des Aischines für falsch halten, das er nachdem er in Rhodos eine Rede des Demosthenes unter allgemeinem Beifall vorgelesen hatte und dann hinzugefügt haben soll: |
‚Ti de, ei autou tou thêriou êkousate;‘ et erat Aeschines si Demostheni credimus ‚lamprophônotatos‘. | „Was erst, wenn ihr den Kerl selber gehört hättet;“ und dennoch war Aischines, wenn wir Demosthenes Glauben schenken wollen, lamprophonótatos (mit einer prächtigen Stimme ausgestattet) gewesen. |
Fatebatur tamen longe melius eadem illa pronuntiasse ipsum qui pepererat. | Trotzdem gestand er, die Rede um vieles besser von demjenigen gehalten worden, der sie kriiert hatte. |
Quae omnia huc tendunt, ut audias Isaeum, vel ideo tantum ut audieris. Vale. | All dies hat de Tatsache zu Ziel, daß Du Isaeus zuhören kommst, und sei es nur, damit Du ihn einmal gehört hast. Lebe wohl. |