Ita dico, Lucili: sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos; hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse tractat. |
So sage ich, Lucilius: Ein heiliger Geist sitzt in uns, als Beobachter und Wächter über unser Übel und Gutes; je nachdem er von uns behandelt wird, so behandelt uns dieser selbst. |
Bonus vero vir sine deo nemo est: an potest aliquis supra fortunam nisi ab illo adiutus exsurgere? |
Ohne Gott ist aber niemand ein guter Mann: ob sich irgendjemand über das Schicksal erheben kann, wenn er nicht von ihm unterstützt wird? |
Ille dat consilia magnifica et erecta. |
Jener gibt erhabene und hochherzige Ratschläge. |
In unoquoque virorum bonorum quis deus incertum est habitat deus. |
In jedem einzelnen der guten Männer wohnt Gott (welcher Gott, ist unsicher). |
Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam altitudinem egressis frequens lucus et conspectum caeli densitate ramorum aliorum alios protegentium summovens, illa proceritas silvae et secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam densae atque continuae fidem tibi numinis faciet. |
Wenn Du einen Hain zu Gesicht bekommst, der reich an alten Bäumen ist, die die gewohnte Höhe überragen und der den Anblick des Himmels durch die Dichte der einen Zweige, die die anderen verdecken, nimmt, wird jener hohe Wuchs, die Abgeschiedenheit des Platzes und die Bewunderung des Schattens, der im Freien häufig und so lückenlos ist, Dir den Glauben an ein göttliches Wesen vermitteln. |
Si quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit, non manu factus, sed naturalibus causis in tantam laxitatem excavatus, animum tuum quadam religionis suspicione percutiet. |
Wenn irgendeine Höhle tief drinnen mit ausgehöhlten Felsen den Berg schwebend erscheinen lässt, nicht von Hand gemacht, sondern durch natürliche Vorgänge zu solch einer Weite ausgehöhlt, wird sie Deine Seele durch eine unsichere Ahnung an ein göttliches Wesen erschüttern. |
Magnorum fluminum capita veneramur; subita ex abdito vasti amnis eruptio aras habet; coluntur aquarum calentium fontes, et stagna quaedam vel opacitas vel immensa altitudo sacravit. |
Wir verehren die Quellen großer Flüsse; Das unerwartete Hervorbrechen eines gewaltigen Flusses aus der verborgenen Tiefe bewirkt Altäre; Man verehrt die Quellen warmer Wasser, und einige Seen hat entweder die schattige Umgebung oder die unermessliche Tiefe geheiligt. |
Si hominem videris interritum periculis, intactum cupiditatibus, inter adversa felicem, in mediis tempestatibus placidum, ex superiore loco homines videntem, ex aequo deos, non subibit te veneratio eius? |
Wenn Du einen Menschen siehst, furchtlos in Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich und ruhig mitten in Unwettern, ein Mensch, der die Menschen aus höherer Ebene sieht, aus gleicher Höhe die Götter, wird Dich da nicht die Verehrung für ihn beschleichen? |
Non dices, ‚ista res maior est altiorque quam ut credi similis huic in quo est corpusculo possit‘? |
Du wirst nicht sagen „Dieses etwas ist größer und erhabener als dass es mit diesem schwachen Körper, in dem es ist, vereinbar geglaubt werden kann.“ |
Vis isto divina descendit; animum excellentem, moderatum, omnia tamquam minora transeuntem, quidquid timemus optamusque ridentem, caelestis potentia agitat. |
In ihn ist eine göttliche Macht hinabgestiegen; eine himmlische Macht belebt den Körper hervorragend, maßvoll, alles umgehend als ob es unbedeutend sei und verlachend, was auch immer wir fürchten und wünschen. |
Non potest res tanta sine adminiculo numinis stare; itaque maiore sui parte illic est unde descendit. |
Ohne die Stütze eines göttlichen Wesens kann eine so große Sache keinen Bestand haben; Deshalb ist sie mit ihrem größeren Teil dort, woher sie abgestiegen ist. |
Quemadmodum radii solis contingunt quidem terram sed ibi sunt unde mittuntur, sic animus magnus ac sacer et in hoc demissus, ut propius quidem divina nossemus, conversatur quidem nobiscum sed haeret origini suae; illinc pendet, illuc spectat ac nititur, nostris tamquam melior interest. |
Wie die Sonnenstrahlen die Erde zwar berühren, aber dort sind, woher sie geschickt werden, so wurde die Seele groß und heilig auch zu diesem Zweck herabgeschickt, damit wir das Göttliche näher kennen, sie verkehrt zwar mit uns, bleibt aber an ihrem Ursprung hängen; von dort hängt sie ab, dahin schaut und strebt sie, und ist in dem Unsrigen gleichwie ein größerer Teil. |
Quis est ergo hic animus? qui nullo bono nisi suo nitet. |
Wer ist also diese Seele? Diese glänzt nur mit ihrem eigenen Guten. |
Quid enim est stultius quam in homine aliena laudare? |
Denn was ist dümmer, als in einem Menschen Fremdes zu loben? |
Quid eo dementius qui ea miratur quae ad alium transferri protinus possunt? |
Was ist verrückter als der, der das bewundert, was sofort auf einen anderen übertragen werden kann? |
Non faciunt meliorem equum aurei freni. |
Goldene Zügel machen ein Pferd nicht besser. |
Aliter leo aurata iuba mittitur, dum contractatur et ad patientiam recipiendi ornamenti cogitur fatigatus, aliter incultus, integri spiritus: hic scilicet impetu acer, qualem illum natura esse voluit, speciosus ex horrido, cuius hic decor est, non sine timore aspici, praefertur illi languido et bratteato. |
Einerseits wird ein Löwe mit goldener Mähne in die Arena geschickt, während er gestreichelt wird und man ihn zur Geduld zwingt, beschmückt zu werden, anderseits ein ungepflegter, von ungebrochener Rohheit: dieser freilich, der jäh im Angriff ist, wie die Natur ihn haben wollte, ansehnlich infolge seiner Wildheit, deren Zier es ist, nicht ohne Furcht betrachtet zu werden, wird jenem vorgezogen, der träge und mit dünnen Goldblättchen behängt ist. |
Nemo gloriari nisi suo debet. |
Man darf sich nur mit seinem eigenen rühmen. |
Vitem laudamus si fructu palmites onerat, si ipsa pondere ad terram eorum quae tulit adminicula deducit: num quis huic illam praeferret vitem cui aureae uvae, aurea folia dependent? |
Wir loben die Weinrebe, wenn die Zweige Frucht tragen, wenn er selbst die Stützen unter dem Gewicht dessen, was ihn trägt, zur Erde hinabzieht: Würde irgendjemand diesen Weinstock jenem vorziehen, von dem goldene Trauben und Blätter hängen? |
Propria virtus est in vite fertilitas; in homine quoque id laudandum est quod ipsius est. |
Fruchtbarkeit ist für den Weinstock eine eigenhafte Tugend; Auch im Menschen muss man das loben, was sein eigenes Wesen ist. |
Familiam formosam habet et domum pulchram, multum serit, multum fenerat: nihil horum in ipso est sed circa ipsum. |
Er hat eine große Dienerschaft und ein schönes Haus, sät viel, verleiht viel: Nichts davon ist in ihm selbst, sondern um ihn herum. |
Lauda in illo quod nec eripi potest nec dari, quod proprium hominis est. |
Lobe in ihm, was man weder entreißen noch geben kann, was das Wesenhafte eines Menschen ist. |
Quaeris quid sit? animus et ratio in animo perfecta. |
Du fragst, was das ist? Die Seele und die Vernunft in der Seele vollendet. |
Rationale enim animal est homo; consummatur itaque bonum eius, si id implevit cui nascitur. |
Der Mensch ist nämlich ein vernunftbegabtes Wesen; Deshalb wird sein Vorzug zur Vollendung gebracht, wenn er das erfüllt hat, wofür er geboren ist. |
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